Seehaus Leonberg ermöglicht jungen Erwachsenen im freien Strafvollzug handwerkliche Ausbildung
„Wenn man es will, dann schafft man es auch“, so lautet das Credo von Arian – er ist Auszubildender im freien Strafvollzug im Seehaus in Leonberg. Die Modelleinrichtung bietet straffälligen Jugendlichen mit einem konsequenten Erziehungs- und Bildungsprogramm eine Chance auf einen neuen Lebensweg.
Das Tagwerk ist getan – fast. Nun steht die hilfreiche Hinweisrunde an. So heißt in der Zimmerei im Seehaus Leonberg die tägliche Feedbackrunde, bei der sich die Auszubildenen gegenseitig beurteilen und von ihrem Ausbilder beurteilt werden. Es geht darum, sich selbst zu reflektieren, andere zu loben und Kritik auszuhalten. Für die meisten der jungen Männer, die im Halbrund zusammenstehen, ist das die größte Herausforderung des Arbeitstages, denn sie haben in der Vergangenheit vor allem durch Stärke Anerkennung erfahren, meist auch durch Gewalt gegen andere. Die Zimmerei im Seehaus in Leonberg, rund 13 km westlich von Stuttgart gelegen, ist keine gewöhnliche Zimmerei, sondern ein Ausbildungsbetrieb für junge Strafgefangene im freien Strafvollzug.
„Es ist zu Anfang sehr schwierig gewesen, Feedback zu geben und anzunehmen“, erzählt Arian (19). Er ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs seit vier Monaten im Seehaus und bereits ein „Löwe“. Das ist im Stufenprogramm des Seehauses die höchste von fünf Stufen und gesteht den Insassen im straffen Tagesprogramm ein paar persönliche Freiheiten zu.
Der 19-jährige Arian (links) arbeitet unter der Anleitung von Zimmerermeister Gerd Rühle zum ersten Mal mit einem Kettenstemmer
Foto: Seehaus / Volker Simon
Arian spricht sehr offen und reflektiert über die Anforderungen an ihn und die anderen jungen Erwachsenen im Seehaus und die Herausforderungen, die das Arbeiten in dem Betrieb im freien Strafvollzug mit sich bringt. Er saß bereits zwei Monate in der Jugendvollzugsanstalt (JVA) Adelsheim, als er auf das Seehaus aufmerksam wurde. Er erkannte sehr schnell, dass die Haftzeit in der JVA ihn trotz aller Bemühungen nur auf eines vorbereitete: auf ein Leben mit Drogen, Gewalt und krimineller Energie. „Darauf hatte ich keinen Bock“, entschied Arian und beantragte eine Verlegung ins Seehaus – mit Erfolg. Nun beginnt sein Tag um 5.45 Uhr mit Frühsport, Impulsen, Frühstück in der Wohngruppe mit den Hauseltern, Küchen- und Putzdiensten und endet nach der Feedbackrunde, einem gemeinsamen Abendessen und Gesprächen mit den Sozialarbeitern um 22 Uhr mit der Nachtruhe.
Das Tagesprogramm ist straff, persönliche Disziplin und soziales Miteinander werden täglich bewertet und Fehlverhalten sanktioniert. Das Konzept verlangt von den Jungs viel ab, auch von Arian, aber er sagt: „Wenn man es will, dann schafft man es auch.“ Er wusste, dass er „mehr geben muss als andere“, wie er selbst beschreibt. Arian wollte schnellstmöglich die höchste von fünf Stufen erreichen und „Löwe“ werden, etwas mehr Freiheiten genießen. Das Mehr an persönlicher Freiheit geht im Seehaus aber auch mit mehr Verantwortung für andere einher.
Vor seiner Zeit im freien Strafvollzug hatte Arian bereits eine Ausbildung im Einzelhandel begonnen und anschließend bei einem Optiker einen zweiten Versuch unternommen. Danach hat er als Bauhelfer gearbeitet, denn es hat ihm Spaß gemacht, handwerklich zu arbeiten und Häuser zu renovieren. Nun besucht er im Seehaus Leonberg die einjährige Berufsfachschule. Nach seiner Entlassung aus dem freien Strafvollzug möchte er die Ausbildung zum Zimmermann abschließen, die Hochschulreife nachholen und ein Studium als Bauingenieur beginnen.
Ausbildungsbetrieb mit breitem Leistungsspektrum
Gerd Rühle ist Zimmerermeister und Leiter der Zimmerei im Seehaus. Der 59-jährige Ausbilder betreut seit 2007 straffällig gewordende Jugendliche und junge Männer im Alter von 16 bis 23 Jahren im Seehaus und vermittelt ihnen Praxiswissen. Aus einfachen Anfängen hat er in einer alten Reithalle mit gespendeten Maschinen einen Betrieb mit mittlerweile 13 Mitarbeitern aufgebaut, der beispielsweise den Bau von Carports, Pergolen und Terrassen übernimmt, Dachfenster und Dachgauben einbaut sowie Dächer und Fassaden energetisch saniert. Zusammen mit dem Schreinerbetrieb des Seehauses wird auch der komplette Um- und Innenausbau von Häusern angeboten.
Die Mitarbeiter der Zimmerei des Seehauses übernehmen unter anderem den Einbau von Dachfenstern und Dachgauben sowie energetische Dachsanierungen
Foto: Seehaus e. V.
Die Aufträge für die Zimmerei und Schreinerei des Seehauses kamen zunächst durch Förderer und Mitglieder der Einrichtung zustande, bald schon durch Empfehlungen. Bei Ausschreibungen tritt das Seehaus mit marktgerechten Preisen an. Bei privaten Auftraggebern steht die Zimmerei und Schreinerei des Seehauses nicht in Konkurrenz zu örtlichen Handwerksbetrieben, auch deshalb, weil aus manchen der Ehemaligen längst erfolgreiche Unternehmer geworden sind. Die Kunden wissen, welche Mitarbeiter Gerd Rühle mit auf die Baustelle bringt. Es dürfen nur diejenigen mit auf die Baustelle, die mindestens den „Löwen“-Status erreicht haben. Bei unserem Besuch im Seehaus waren das sechs Auszubildende. Für Gerd Rühle und sein Team gilt auf den Baustellen die Anforderung, bessere Arbeit und Umgangsformen abzuliefern, als es von ihnen erwartet wird. „Wir können uns keinen Murks und Stress mit den Bauherren leisten“, sagt der Zimmerermeister. Außerdem ist die hilfreiche Hinweisrunde nach einem langen Arbeitstag sehr viel kürzer, wenn auf der Baustelle alles glatt lief. Das Seehaus wächst, es werden weitere Wohngemeinschaften entstehen und so braucht auch das Bauteam Verstärkung, um weiterhin Jugendliche und junge Erwachsene im Handwerk ausbilden zu können.
Volker Simon ist Geschäftsführer der PR-Agentur nota bene communications GmbH in Weinstadt und unterstützt den Verein Seehaus e. V. ehrenamtlich.
Freier Strafvollzug mit straffem Tagesprogramm
Der gemeinnützige Verein Seehaus e.V. ist in den Bereichen Opferhilfe, Straffälligenhilfe und Prävention tätig und ermöglicht in zwei Einrichtungen in Leonberg und Leipzig einen freien Strafvollzug als Alternative zum geschlossenen und offenen Strafvollzug. Bis zu sieben straffällig gewordene Jugendliche leben dabei im Seehaus mit ihren Hauseltern zusammen. Dabei sind sie in ein straffes Tagesprogramm eingebunden. Das familienähnliche Zusammenleben und der durchstrukturierte Arbeitsalltag im Seehaus sollen Verantwortung und Sozialverhalten trainieren. Die jungen Häftlinge können in einem internen Stufensystem aufsteigen und werden dabei mit mehr Freiheiten belohnt.
Das Angebot des Seehauses richtet sich an junge Erwachsene im Alter zwischen 16 und 23 Jahren, die wegen Gewalt- und Körperverletzungsdelikten verurteilt wurden. Zur Aufnahme im Seehaus sind verschiedene Positivkriterien notwendig, neben der Zustimmung der Anstaltsleitung der JVA und der Staatsanwaltschaft ist eine zu verbüßende Reststrafe von mindestens einem Jahr bis zur voraussichtlichen Haftentlassung eine Voraussetzung.
Während des Aufenthalts im Seehaus werden die Jugendlichen im schulischen Bereich, in der beruflichen Bildung und im Freizeitbereich gefördert. In der einjährigen Berufsfachschule im Seehaus können sie eine Ausbildung in den Bereichen Bau, Holz oder Metall beginnen. Dabei kann ein dem erweiterten Hauptschulabschluss gleichwertiger Bildungsstand erreicht werden, Schreiner können auch im zweiten und dritten Lehrjahr ausgebildet werden. Es bestehen gute Vermittlungschancen ins Handwerk und in die Industrie. Der Verein Seehaus e.V. finanziert sich über Zuschüsse sowie Geld- und Sachspenden. Neben hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bringen sich FSJler, Praktikantinnen und Praktikanten und viele Ehrenamtliche in das Projekt ein. Zur Zeit werden auch Hauseltern und Zimmerer für das Seehaus Leonberg gesucht. Weitere Informationen finden Sie online unter www.seehaus-ev.de