Historische Dachdeckung

Durch den raschen Bevölkerungszuwachs ab der Barockzeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts entstand ein großer Bedarf an Gebäuden aller Art. Auf diese Entwicklung reagierten Hersteller von Baustoffen mit neuen Produkten und bautechnischen Konstruktionen. Dies betraf auch die Dachziegelherstellung.

Aus der mittelalterlichen Tradition heraus verwendet man bis ins 20. Jahrhundert die bekannten Dachziegelformen wie Biberschwänze, Pfannen und Hohlziegel. Diese wurden meist in kleinen Ziegeleien produziert und hatten auf Grund der Produktionsweise sehr unterschiedliche Qualitäten. Man experimentierte auch mit neueren Formen, um die Eigenschaften der Ziegel und die Dichtheit der Dächer zu verbessern. Im Zuge der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung, wie zum Beispiel der Einführung der Eisenbahn, kam der Dachdecker mit einer immer größeren Anzahl von unterschiedlichen Ziegelarten in Berührung, denn mit der zunehmenden Mobilität konnten auch weiter entfernte Produkte von den einzelnen Ziegeleien dem Dachdeckerhandwerk zur Verfügung gestellt werden. Damit hatten der Bauherr und der Bauhandwerker eine größere Auswahl an unterschiedlichen Dachziegeln, und somit konnte man den wachsenden architektonischen und qualitativen Ansprüchen immer besser gerecht werden.

Mit dem Erlass von baupolizeilichen Verordnungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dem Bauherren beziehungsweise dem Bauunternehmer hinsichtlich des Brandschutzes konkrete gesetzliche Angaben vorgegeben. So durften bestimmte Dachdeckungsmaterialien, wie Stroh oder Holzschindeln, nur noch in Ausnahmefällen angewandt werden.

Anforderungen und behördliche Vorschriften

Anfang des 19. Jahrhunderts gab es die ersten Baufachbücher, um den Dachdeckern und anderen Bauhandwerkern eine schriftliche Grundlage für ihre Arbeiten zu geben. Im historischen Fachbuch „Der vollkommene Dachdecker“ aus dem Jahre 1833 wurden die allgemeinen Anforderungen für ein Ziegeldach beschrieben:

„Bei einem Ziegeldache, welches Forderungen seines Zweckes aufs Vollkommenste entsprechen soll, kommt es vorzüglich an:

auf eine tüchtige Construktion des Sparrenwerkes selbst,
auf gute und regelmäßige Lattung mit tüchtigen Latten,
auf vollkommen gute Ziegel an innerm Werthe und Gestalt,
auf ein ebenso tüchtiges Binde- und Verstreichmaterial,
auf fleißige und sorgfältige Arbeit des Ziegeldeckers.

Dies sind also Forderungen, die zu erfüllen an sich nicht schwer sind und also auch nie unerfüllt bleiben sollen (...)“

Von den Baubehörden wurden ebenfalls bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Baugesetze und Vorschriften erlassen, auch hinsichtlich der Bedachungsart. In der Baupolizeiordnung für Städte im Königreich Sachsen heißt es unter anderem:“§40 Bei Neubauten von Dächern, sowohl auf neuen und alten Gebäuden und gleichviel (...) ist nur harte Bedachung als: Steine, Ziegel, Schiefer, Metall, Cement und Asphalt (...) gestattet.“

Laut der historischen Fachliteratur war also das Verhindern von Bränden in dicht bebauten Gebieten das Ziel. Die Durchsetzung der Bestimmungen wurde in vielen Teilen Deutschland durch die sogenannte Feuerpolizei vorgenommen.

Ziegelarten

Anfang des 19. Jahrhunderts verwendete man am häufigsten die Zungen oder Biberschwänze. Diese waren etwa 33 bis 38 cm lang und rund 14 cm breit. Neben diesen verbaute man noch Pfannen mit unterschiedlichen Formen und Größen. Ältere Ziegelarten wie Hohlziegel oder flache Kremper wurden in dieser Zeit nur noch selten und regional begrenzt angewendet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch Falzziegel für die Dachdeckung eingesetzt. Diese Ziegel kamen ursprünglich aus Frankreich, und deren Anwendung fand durch die Massenproduktion auch im Deutschen Reich immer größeren Einsatz. Der Vorteil gegenüber Biberschwänzen oder Pfannen war das geringere Gewicht gegenüber den anderen Ziegeldächern. Somit konnte die Dachstuhlkonstruktion geringer dimensioniert werden. Es gab schon Falzziegel mit Glaseinsatz, die man für die Belichtung des Dachraumes verbaute.

Neben den genannten Dachziegeln stellte man auch Spezialziegel her. So gab es Lüftungssteine, sogenannten Lukensteine, aber auch Firstziegel mit unterschiedlichen Schmuckelementen.

Das Angebot umfasste noch weitere spezielle Ziegel, wie die „holländische Gaube“, die zur Dachbelüftung eingebaut wurde. Für die Eindeckung von Türmen boten verschiedene Hersteller konische Biberschwänze mit einer Breite von 4 bis 16 cm an. Für das untere Ende gab es Gratfänger unterschiedlichster Formen. Bei Zeltdächern, wo die Grate gegen ­mehrere Firste stießen, boten die Hersteller dem Dachdecker so genannte „Glocken“ an. War eine mehrfarbige Dachflächengestaltung vorgesehen, wurden die Dachziegel mit Glasuren versehen, alternativ wurde eine unterschiedliche Farbigkeit bei der Herstellung durch Zugabe von verschiedenen Brennstoffen erreicht.

Die Qualität der damals produzierten Dachziegel war sehr unterschiedlich. So wird immer wieder in historischer Baufachliteratur auf  mangelhafte Dachziegelqualität verwiesen und dass es auf der Baustelle notwendig war, diese vor der Eindeckung sorgfältig zu sortieren. Dies hatte sicher seine Ursache in der Herstellung. Die damaligen Möglichkeiten, gleichbleibende Materialqualität zu liefern, waren noch nicht ausreichend.

Deckungsarten mit Biberschwänzen

Welche Art der Eindeckung gewählt wurde, hing von verschiedenen Faktoren ab. Bestimmte Dachdeckungen wurden oft nur regional bevorzugt. Dies hing mit der langen örtlichen Bautradition und den zur Verfügung stehenden Dachziegelformen zusammen. Es spielte aber auch die Dachform und die Gebäudeart eine Rolle.

Bei Flachziegeln unterscheidet man das Zungen- oder Spließdach, das Doppeldach und das Kronen- oder Ritterdach sowie das Böhmische Dach.

Beim Spließdach wurden die Biberschwänze in einer einfachen Reihe nebeneinander in die Dachlatten gehängt. Zwischen den Dachsteinen legte die Handwerker dünne etwa 5 cm breite Holzbrettchen, sogenannte Spließe. Diese wurden nicht extra befestigt und hielten nur durch die Auflast der einzelnen Ziegel. Später verwendete man anstatt der Holzbrettchen entweder Zinkblech oder Dachpappenstreifen. Man unterschied zwischen dem Verlegen im Verbande oder der Reihendeckung. Bei dieser Deckungsart bekam man das Dach nie ganz dicht, daher wurde sie auch nur für untergeordnete Gebäude angewendet.

Beim Doppeldach wurden die Biberschwänze auf jeder Dachlatte in einer einfachen Reihe verlegt und mit einem Mörtelstrich versehen. Die einzelnen Dachsteine wurden mit dem Mörtel gegen den benachbarten Stein gedrückt. Die Verstreichung des Daches an den Kopfenden erfolgte vom Dachinneren aus.

Im Unterschied zum Doppeldach wurde beim Kronen- oder Ritterdach auf die Latte eine doppelte Reihe von Ziegeln im Verbande gelegt. Die Dichtung der Stoßfugen erfolgte wie beim Doppeldach durch einen Mörtelstrich an den Seitenkanten.

Beim Böhmischen Dach wurden auf die Biberschwänze ein etwa 2 cm breiter Querschlag zwischen den einzelnen Lagerfugen aufgebracht.

Deckung mit Dachpfannen

Die Eindeckung mit Pfannen war traditionell im Süden und Norden von Deutschland üblich. Bei den Pfannen gab es die „holländische“ und „große“ Pfanne. Diese unterschieden sich in Größe und Deckmaß in der Breite. Da die Pfannen nie ganz gleichmäßig geformt waren, konnte man oft kein dichtes Dach herstellen. Mit Haarkalkmörtel wurden die einzelnen Ziegel von unter her verstrichen. Um dichtere Fugen zu erhalten, brach man die Kante des aufstehenden Flügels. Diese Nacharbeit nannte sich „Krämpen“.

Deckung mit Falzziegeln

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es verschiedene Formen von Falzziegeln. Diese Ziegel ergaben durch das ineinander greifen der seitlichen Falze und teilweise am oberen Rand liegenden Falze ein sehr dichtes Dach ohne das eine Vermörtellung der einzelnen Steine notwendig war. Dadurch wurde die Dachdeckung relativ leicht und der Dachstuhl konnte geringer dimensioniert werden. Sie wurden auch in unterschiedlichen Farben herstellt, und damit konnte der Architekt auch anspruchsvoll gestaltete Dachflächen entwerfen. Bei den Produktionsweisen des 19. Jahrhunderts gab es oft Probleme mit der Qualität der Falzziegel, so dass es beim Ineinandergreifen bei den einzelnen Ziegeln mitunter zu Schwierigkeiten kam. Damit kam dieser „moderne Dachziegel“ anfänglich in Verruf und wurde nicht so häufig eingesetzt.

Autor

Lutz Reinboth ist Bauingenieur in Leipzig, Fachautor und freier Autor unter anderem der Zeitschrift dach+holzbau. www.lutz-reinboth.de

Im historischen Werk „der vollkommene Dachdecker“ werden Anforderungen für ein Ziegeldach beschrieben

Buchtipp

Opderbecke, A.: Der Dachdecker und Bauklempner, 2012, Reprint der Originalausgabe, Leipzig 1907. 272 S., 745 Abb. im Text, 17 Taf., HC. Reprint Verlag Leipzig, Darmstadt.

Inhalt: Pflege, Erhaltung, Sanierung und Rekonstruktion älterer Gebäude erfordern heute Kenntnisse traditioneller Handwerkstechniken. „Der Dachdecker und Bauklempner“ von Adolf Opderbecke – als Lehrbuch für Gewerbeschulen und als Handbuch für den Praktiker konzipiert – gibt einen tiefen Einblick in die Standards dieser Gewerke um 1900 und ist ein Hilfsmittel für das Bauen im Bestand.

Ziegeleimuseum in Pegau

Die Ziegelei Erbs ist ein so genanntes Technisches Denkmal und befindet sich in der sächsischen Kleinstadt Pegau. Die Ziegelei wurde1909 von Julius Erbs gegründet. Hergestellt wurden anfänglich Vollziegel mit dem vor-
industriellen Handstrichverfahren. Die Ziegelei war bis Mitte der 1970er Jahre in Betrieb, die historischen Produktionsstätten wurden 1980 unter Denkmalschutz gestellt.

Nach der schrittweisen Sanierung Anfang der 1990er Jahre können dort heute Besucherinnen und Besucher die einzelnen Phasen einer Ziegelproduktion, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschten, besichtigen. Zu sehen sind unter anderem der historische Hoffmannsche Ringofen und das Presshaus. Große Teile des Industriemuseums sind in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben.

Museum der Stadt Pegau; Öffnungszeiten: Sonntag 13 bis 17 Uhr und nach Vereinbarung; Tel.: 034296 98033; www.pegau.de

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