Auf den Trichter gekommen

Aus einem Getreidesilo in Geislingen machten die Architekten Martina Stahl und Volker Sawall gemeinsam mit den Handwerkern einen Büroturm. Heute ist das Gebäude ein Niedrigenergiehaus. Die aus Brettstapelwänden bestehenden Silos blieben trotz Umbau erhalten.

In nahezu unveränderter baulicher Form wurde das ehemalige Lagerhaus in Geislingen an der Steige (Baden-Württemberg) bis 1989 genutzt. Doch nach über zwei Jahrzehnten Leerstand drohte dem Industriedenkmal allmählich der Verfall. Die Umnutzung zum Bürogebäude ist das Ergebnis eines Ideenwettbewerbes. Erklärtes Ziel des Planungsteams Martina Stahl und Volker Sawall war es, den historischen Charakter des 1921 errichteten Gebäudes weitgehend zu erhalten – trotz moderner technischer Ausstattung und Niedrigenergiehaus-Standard. 

Treppenhaus in alter Silozelle aus Brettstapelwänden

In der Vergangenheit diente der viergeschossige, quadratische Walmdachbau mit achteckigem Aufsatz den umliegenden Landwirten als genossenschaftliches Lagerhaus für Getreide, Kartoffeln und Kunstdünger. Unter- und Erdgeschoss wurden als Eisenbetonkonstruktion errichtet, erstes bis drittes Obergeschoss bestehten aus einer mit Holzschindeln verkleideten Fachwerkkonstruktion mit Vorsprüngen.

Die nördliche Gebäudehälfte enthielt ursprünglich sechs Getreidesilos, die über drei Stockwerke aus Fichtenbrettern zu einer Brettstapelkonstruktion zusammengenagelt sind. Zu Spitzenzeiten lagerten in den Silos bis zu 1000 Tonnen Getreide. Das neue Treppenhaus wurde in eine der Silozellen integriert, wodurch diese in ihrer Gesamtheit vom Trichter im Erdgeschoss bis zum Dach erlebbar bleibt. Durch die sichtbaren Brettstapelwände ist der ursprüngliche Charakter industrieller Nutzung sinnlich erfahrbar. In die Wände schnitten die Zimmerleute lediglich Durchbrüche vor den vorhandenen Fenstern sowie für die erforderlichen Durchgänge ein.

Die in das alte Gebäude neu eingefügte Treppenkonstruktion aus Stahl ist über Langlöcher so befestigt, dass sie bei Bedarf nachreguliert werden kann (falls es zu Bewegungen oder Verschiebungen in der Holzkonstruktion kommen sollte). Den Treppenbelag führten die Handwerker mit Hartholzbohlen aus Eiche (50 mm dick) aus.

Flexible Neubauanbindung mit gleitenden Anschlüssen

Die angrenzende Silozelle stellt die Verbindung zwischen dem Treppenhaus, den Büroräumen und einem modernen Anbau mit Aufzugsanlage, die vom Untergeschoss bis zum dritten Obergeschoss einen barrierefreien Zugang ermöglicht, her. Der in sich geschlossene, schlichte Neubau ist durch verglaste Stege mit dem Haupthaus verbunden.

Aufgrund der Umnutzung wird sich während der Heizperiode eine Holzfeuchte in der Konstruktion von etwa 8 Prozent und im Sommer etwa 12 Prozent einstellen – gegenüber rund 20 Prozent im zuvor ungeheizten Zustand. Der durch die Trocknung zu erwartende Schwund des Bestandsgebäudes in der Vertikalen liegt bei 15 mm pro Geschoss; bei drei Obergeschossen zusammen also bei 45 mm. Die Verbindung zwischen den beiden Baukörpern musste daher gleitend ausgebildet werden. Zu diesem Zweck schufen die Zimmerer an der Altbaufassade ebene Anschlussflächen aus Dreischichtplatten. Diese liegen in der Ebene der rauen Schalung unter der Schindelverkleidung und ermöglichen neben dem dampf- und winddichten Anschluss der Glasfassade an den Altbau eine eigenständige Bewegung des Bestandsgebäudes. Die Beton-Geschossdecken des Stegs berühren das Bestandsgebäude nicht. Den Übergang bildet ein Riffelblech als Rampe mit variabler Neigung.

 

Doppelte Konstruktion mit Fachwerkwand

Während die Fachwerkaußenwände als Hüllfläche reine Schutzfunktion gegenüber Witterungseinflüssen übernehmen, befindet sich im nördlichen Gebäudeteil eine weitere, parallel zu den Außenwänden verlaufende Fachwerkkonstruktion, die in der Vergangenheit rein statische Zwecke zu erfüllen hatte. Diese Konstruktion umschließt von drei Seiten die Brettstapelwände der sechs Silos, um den Silowänden die nötige Stabilität zu verleihen, damit diese dem enormen Fülldruck standhielt. Zwischen dieser Fachwerkkonstruktion und der Außenwand ist ein umlaufender Durchgang vorhanden, der im Zuge der Umnutzung für Installations- und Regaleinbauten genutzt wurde.

 

Außenwände energetisch auf den neusten Stand gebracht

Die Bestandsaußenwände der oberen drei Geschosse aus Fachwerk mit Holzschindelfassade bauten die Zimmerleute zu einer modernen Holzrahmenwand mit Niedrigenergiehaus-Standard um. Nach dem Entfernen der Gefache beplankten sie die Konstruktion von innen mit 15 mm OSB-Platten, die zugleich als Dampfbremse fungieren. Der Zwischenraum ist vollständig mit Zellulosedämmstoff (isofloc) ausgefüllt. Abschließend sind die Innenseiten der Außenwände mit 9,5 mm Gipsfaserplatten (Fermacell) versehen und gestrichen.

Allseitig symmetrisch angeordnete Fenster in den Obergeschossen gliedern die Fassaden optisch und lockern das Erscheinungsbild des Gebäudes auf. Die originalen Holzsprossenfenster wurden raumseitig durch ein modernes Holzisolierglasfenster mit einem U-Wert von 1,1 W/(m2K) zum Kastenfenster ergänzt. Für einen größeren Lichteinfall sorgen unterhalb der historischen Fenster nachträglich eingebaute, mit der Innenwand bündige Isolierglasfenster (U-Wert 1,1 W/(m2K).

 

Kabelkanal im Fußboden integriert

Um die Anforderungen an den Schall- und Brandschutz zu erfüllen, erhielten die vorhandenen Dielenböden einen entsprechenden Bodenaufbau; in den Büroräumen etwa wurden 40 mm Betonplatten in Sand verlegt, darüber eine Trittschalldämmung sowie 60 mm Rahmenschenkel mit entsprechend gedämmten Zwischenräumen. Entlang der Außenwände über der Betonplatte verblieben jeweils 35 cm breite Kanäle (10/35 cm), die sämtliche Versorgungsleitungen aufnehmen. Durch die Abdeckung mit einfachem Edelstahltränenblech (6 mm) wurden auch diese funktionalen, in den Fußbodenaufbau integrierten Versorgungsstränge bewusst sichtbar belassen. Als abschließenden Bodenbelag erhielten die Büros einen Dielenbelag aus Eichenholz, der strapazierfähiger ist als Fichte.

Der originale Bretterboden aus Fichte ist im südlichen Fachwerkteil als Deckenuntersicht erhalten. Im nördlichen Gebäudeteil, wo sich die sechs Silozellen befanden, wurden neue Zwischendecken eingezogen und mit OSB-Platten beplankt. In der Untersicht sind sie verputzt, beziehungsweise mit 5 mm Linoleum als Bodenbelag versehen, um die neu eingezogenen Bauteile von den Originalbauteilen optisch abzugrenzen.

 

Kleine Details erzählen Geschichte

Im Gebäude bleiben neben der Fachwerkkonstruktion sowie den bestehenden Holzbalkendecken viele funktionale Details sichtbar, wie etwa die alte Sprinkleranlage. Auch die Rüttel- und Schüttelvorrichtungen, die alten Lagerböden sowie die Trichter, über die Säcke mit Getreide befüllt wurden, sind teilweise heute noch unter den historischen Holzdecken verblieben. Neben moderner Technikausstattung bleibt somit die ursprüngliche Funktion des ehemaligen Lagerhauses erkennbar und nachvollziehbar.

 

Funktionale Anforderungen denkmalgereicht integriert

Um das übliche Aufschlitzen der Wände für das Verlegen von Licht- und Stromkabeln zu vermeiden, entwickelte das Planungsteam denkmalgerechte Lösungen: Die Kabel verschwinden beispielsweise hinter Stahlträgern, die im Treppenhaus zur Stabilisierung der Brettstapelwände nachträglich eingebaut wurden, oder in Fußbodenkanälen entlang der Außenwände.

Die Abtrennung der einzelnen Büroräume erfolgt nicht, wie üblich, durch Leichtbauwände, sondern durch Schrankwände, die viel Stauraum bieten. Nach oben und zu den Seiten hin sind diese mit einer umlaufenden, festen Verglasung eingepasst, damit die originalen Holzdecken durchgehend erlebbar bleiben.

Das ehemalige Lagerhaus in Geislingen ist damit ein gelungenes Beispiel, wie sich funktionale Anforderungen an modernes Wohnen und Arbeiten in Verbindung mit moderner Technikausstattung behutsam in historische Bausubstanz integrieren und mit dem besonderen Charme eines Industriedenkmals in Einklang bringen lassen.

Autorin

Anne Fingerling lebt und arbeitet als Baufachjournalistin und freie Autorin der Zeitschrift bauhandwerk in Kassel.

Aus einem ehemaligen Getreidesilo in Geislingen wurde ein modernes Bürohaus

Baubeteiligte (Auswahl) 

Bauherr Alb-Elektrizitätswerk Geislingen-Steige eG 

Planung und Bauleitung Dipl.-Ing. (FH) Arch.
Martina Stahl, Kuchen in Kooperation mit
Dipl.-Ing. Volker Sawall, Geislingen/Steige

Statik Thomas Neher, Bad Überkingen

Restaurator Erwin Raff, Denkendorf

Zimmerarbeiten Holzbau Stahl, Kuchen

Rohbauarbeiten Firma Rapp, Geislingen/Steige

Schreinerarbeiten Firma Ströhle, Geislingen/Steige

Schlosserarbeiten Firma Buck, Geislingen/Steige

Dachabdichtungsarbeiten Firma Brendel,
Geislingen/Steige

Fensterbau Firma Ebner, Geislingen/Steige

Gipserarbeiten Firma Laib, Amstetten-Stubersheim

Estrichlegerarbeiten Firma Wiedmann,
Hildritzhausen

Malerarbeiten Firma Mallock, Geislingen/Steige 

 

Herstellerindex (Auswahl) 

Dämmung Isofloc, Lohfelden, www.isofloc.de 

Gipsfaserplatten Fermacell, Duisburg,
www.fermacell.de

 

Baudaten (Auswahl)

Energiekennwerte/U-Werte (nach der Sanierung)

Dach 0,18 W/(m²K)

Außenwand Fachwerk (1. bis 3. OG) 0,16 W/(m²K)

Außenwand EG+UG 0,32 W/(m²K)

Außenwand Aufzugsturm 0,26 W/(m²K)

Fenster 1,10 W/(m²K)

Boden 0,33 W/(m²K) 

Transmissionswärmeverlust etwa 30 Prozent besser als Neubau nach EnEV 2009

Gesamte Nutzfläche 1008 m2

Gesamtkosten (brutto) rund 2 Millionen Euro

Zeichnungen zum Download als PDF

Hier finden Sie eine Ansicht, einen Schnitt sowie einen Grundriss des umgebauten Getreidesilos.

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