Zollingerdach: Dachtragwerk mit langer ­Geschichte

Ab den 1920er Jahren gab es zahlreiche Erfindungen auf dem Gebiet der Dachtragwerke. Das Zollinger-Dachwerk war eines der innovativsten Entwicklungen. Es vereinigte die Gedanken von sparsamem Holzverbrauch und dem Überspannen großer Räume. Sein Erfinder war der Architekt Friedrich Zollinger.

Mit seinem Dachtragwerk leistete Friedrich Reinhardt Balthasar Zollinger – geboren 1880 in Wiesbaden – einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Holzbaus. Nach dem Abitur studierte er bis 1907 an der technischen Hochschule Darmstadt. Bereits während seines Studiums arbeitete er in einem Architekturbüro. Von 1908-1911 war Zollinger als Regierungsbaumeister im Großhessischen Ministerium für Finanzen tätig. Später wirkte er in seinem Beruf als Architekt in verschiedenen Städten. Er beteiligte sich auch an zahlreichen Wettbewerben auf dem Gebiet der Stadtplanung. Ein Beispiel dafür ist der Bebauungsplan in Berlin-Reinickendorf von 1914. Im Jahr 1918 erhielt Zollinger die Berufung zum Stadtbaurat in Merseburg/Saale. Dieses Amt übte er mit viel Kreativität und Produktivität bis 1930 aus. Im Jahr 1932 verließ Friedrich Zollinger Merseburg und verstarb 1945 in Bayern.

Geschichte des Dachtragwerkes

Ausgangspunkt der Entwicklung war das Bogenbohlendachwerk mit gekrümmten parallelen Sparren. Dieses Dachwerk bestand aus zwei beziehungsweise drei miteinander verbundenen und versetzt angeordneten Brettern. Daraus entwickelte Friedrich Zollinger sein Prinzip des Rauten-Lamellendaches. Erste Versuche fanden bereits 1904 statt. Im Jahr 1921 meldete Zollinger sein Dachtragwerk aus einzelnen Brettlamellen zum Patent an. Die Ausgabe des Patentes erfolgte im Dezember 1928. In diesem Patent über „raumabschließende, ebene und gekrümmte Bauteile“ sind sowohl gerade Dachwerke als auch gekrümmte Dachtragwerke enthalten.

Einen Standsicherheitsnachweis konnte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht führen. Darum wurden vom Materialprüfamt Berlin-Lichterfelde und an den Technischen Hochschulen Dresden sowie Hannover entsprechende Versuche durchgeführt. Die Ergebnisse waren positiv. Robert Otzen entwickelte ein Näherungsverfahren für den Standsicherheitsnachweis. Dieses Verfahren entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen. Die Vielzahl der erhaltenen Zollinger-Dächer zeigt, dass ausreichende Tragreserven vorhanden sind.

Holzersparnis als großer Vorteil

Mit den Zollinger-Lamellen wird wesentlich Holz ein

gespart. Dadurch hat das Dachtragwerk ein geringes Eigengewicht und im Dach entsteht ein großer nutzbarer Raum. Die Zollinger-Dächer konnten in kurzer Zeit errichtet werden. Bei Bedarf war auch eine problemlose Demontage möglich. Die aufwendige Konstruktion des Dachverbandes entfiel. Durch die biegefeste Konstruktion konnte man ohne Weiteres Öffnungen einbauen, wie zum Beispiel Fenster und Dachgauben. Die Abbundarbeit konnte auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Transportkosten wurden dadurch gesenkt und größere Hebezeuge für die Bestandteile des Dachtragwerkes waren nicht notwendig. Mit dem Zollinger-Dachtragwerk konnte man sehr große Spannweiten realisieren. Die Konstruktion kam ohne massive Bohlen und Sparren aus. Die Materialeinsparung betrug gegenüber dem traditionellen Pfettendach mehr als 40 Prozent und gegenüber einem Mansarddach über 50 Prozent. Ein weiterer Vorteil war, dass das geringere Eigengewicht eine Verminderung der Mauerwerksmassen möglich machte. Die Montage der Lamellen war sehr einfach, sodass auch Bauherren beziehungsweise künftige Mieter beim Errichten des Dachwerkes mithelfen konnten.

Bei der Formgebung des Daches war man sehr variabel. Bei Wohnhäusern konnte man den Dachraum für Wohnzwecke nutzen. Bei höheren Dachtragwerken in Wohngebäuden konnte man durch Einziehen von Kehlbalken eine bis zu dreigeschossige Raumnutzung erzielen. Die große Anzahl an Vorteilen bewog viele Bauherren im Deutschen Reich sich für das Zollinger-Lamellendach zu entscheiden. Die Formen waren sehr variabel, zudem kam, dass man bei Kirchenbauten eine gute Akustik erzielen konnte.

Ein sehr großer Vorteil der Zollinger-Lamellendächer ist der konstruktionsfreie Dachraum. Dies wirkte sich besonderes bei Lagergebäuden positiv auf die Nutzung aus.

Nachteile beim Brandschutz

Bei mangelnder Kontrolle und Pflege des Zollinger-Lamellendaches konnten sich einzelne Schraubverbindungen lockern und es konnte zu Setzungen kommen. Bei zu flach ausgeführten Dächern hing die Konstruktion zum Teil durch. Nachteil auch bei Bränden: Hier boten die schmalen Lamellenbretter wenig Widerstand.

Konstruktion

In der Firmenschrift des „Europäischen Zollbau Syndikats“ von 1929 wird die Bauweise wie folgt beschrieben:

Es ist ein Gewölbe aus rautenförmigen zusammengebauten, gleich gestalteten Brettern, den Lamellen, die genau nach den statischen Erfordernissen geschnitten und zusammengefügt werden. Die äußeren gekrümmten Lamellenkanten ergeben das Dachprofil und bieten der Schalung ein sicheres Auflager. Für jedes Dach wird nur ein Brett in Lamellenform gebraucht.

Vielfältige Anwendungsbeispiele

Die Zollinger Bauweise wurde bei unterschiedlichen Gebäudearten angewendet. In den Anfangsjahren war es vor allem der Wohnungsbau. Mit diesen Dachtragwerken errichtete man ganze Siedlungen, wie zum Beispiel in Merzdorf/Merseburg. Ein weiteres Beispiel für die Anwendung im Wohnungsbau war die Reihenhaussiedlung in der Laustädter Straße,  ebenfalls in Merseburg. In Leipzig gibt es Einzelwohnhäuser und Mehrfamilienhäuser mit Aussparungen für Balkone. Es gab auch Anwendungen bei der Aufstockung von Wohngebäuden. In ländlichen Gegenden baute man hauptsächlich Stallungen und Scheunen. Noch heute findet man eine erhaltene Scheune in Mutzschlena bei Leipzig. Das Zollinger-Dach wurde auch bei Kirchen eingesetzt. In Merseburg wurde in nur drei Monaten die Kreuzkapelle errichtet. Sie ist heute noch erhalten. Die Marienkirche in Güstrow oder die Heilig-Kreuz- Kirche in Waren sind dafür weitere zwei Beispiele. Eine breite Verwendung fand das Dachwerk bei Industrie- und Gewerbebauten. In Ludwigsburg steht eine ehemalige Industriehalle, die nach einer Sanierung im Jahr 2002 heute neu genutzt wird. Auch öffentliche Gebäude wie Schulen oder Turnhallen wurden mit dieser speziellen Dachkonstruktion versehen. Die Turnhalle in Riesa hatte eine Spannweite von 21,50 m. Bei dem Schulkomplex mit Turnhalle in der Dürerstraße in Mer­seburg, errichtet 1928, wurde auch das Dachwerk von Zollinger angewendet. Ein be­sonderes Zollinger Dachtragwerk ist heute noch im Dickhäutergebäude des Leipziger Zoos zu sehen. Es wurden auch in den späten 1920er Jahren Wochenendhäuser mit der Zollingerbauweise angeboten. ­Angesichts der Holzknappheit nach dem Zweiten ­Weltkrieg empfahl C. Kersten die Zollinger-Dachtragwerke in seinem 1947 erschienenen Buch „Das Holz im Wiederaufbau“ als holzsparende Dachkonstruk­tion.

Das Prinzip des Rauten-Lamellen-Daches wurde in den letzten Jahrzehnten neu belebt und fand zahlreich Anwendungen. Eine Messehalle in Rostock, errichtet 2001/2002, soll ein Beispiel dafür sein. Die genannten Beispiele zeigen die Vielfalt der Zollinger-Lamellendächer.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Zollinger-Dach eine der innovativsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Dachtragwerke beziehungsweise des Holzbaues war. Es vereinigte eine holzsparende Bauweise mit einer industriellen Vorfertigung. Durch diese Tatsachen konnte man erheblich an Baukosten sparen. Bei einer entsprechenden Wartung besitzt das Zollinger-Dach eine lange Standzeit. Solche Dächer sind Ausdruck unserer Baukultur aus den 1920er Jahren. Bei einer Sanierung sollten diese Dachwerke möglichst erhalten bleiben.

Autor
Lutz Reinboth ist Bauingenieur und als Autor für verschiedene Baufachzeitschriften tätig. Er lebt in Leipzig.

Die Holzersparnis machte sich gegenüber eines Pfettendaches mit 40 Prozent bemerkbar

Literatur im Internet bei

der Bauhaus-Universität

Das historische Fachbuch von C. Kersten,  Freitragende Holzbauten von 1926, kann man kostenlos als PDF-Datei bei der Bibliothek der Bauhaus-Universität Weimar herunterladen. Darin sind die Konstruktion, die einzelnen Dachformen und Beispiele der Ausführung des Zollinger-Lamellendaches enthalten. Auch andere Dachkonstruktionen werden darin sehr ausführlich dargestellt. (http://goobipr2.uni-weimar.de/viewer/image/PPN642622825/1/LOG_0001/)

Führungen zu Zollinger-Stadtviertel als Angebot im Schloss Merseburg

Die Ausstellungen des Kulturhistorischen Museums Schloss Merseburg – oberhalb der Saale neben dem Dom gelegen – bieten anhand wertvoller und einmaliger Exponate einen faszinierenden Überblick über die Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung von der Ur- und Frühgeschichte an. Merseburg hatte als ottonischer Pfalzort, mittelalterlicher Bischofssitz, barocke Herzogsresidenz und als preußischer Verwaltungssitz stets eine große politische und kulturelle Bedeutung.

Schloss- und Museumsführungen werden ebenso angeboten wie Führungen durch die Zollinger-Stadtviertel der 1920er Jahre. Mit der expandierenden Großindustrie in Leuna und dem starken Bevölkerungszuwachs entstanden auch in Merseburg neue Wohnviertel und öffentliche Gebäude, bei denen der langjährige Stadtbaurat Friedrich Zollinger (1918-30) seine eigenen Konstruktionen zur Anwendung brachte. Das berühmte und elegante, weltweit verbreitete Zollinger-Dach mit seinem von Lamellen getragenen Gewölbe lässt sich in Merseburg in einmaliger Vielfalt und Fülle bewundern.

Kulturhistorisches Museum Schloss Merseburg, Domplatz 9, 06217 Merseburg, Tel.: 03461/401318,

www.saalekreis.de.

Erler gibt in seinem Fachbuch einen Überblick zur Geschichte der Holzbauwerke. Die einzelnen Epochen werden ausführlich behandelt. Verschiedene Schadensbilder, wie Risse, Fäulnis und Mazeration, nehmen breiten Raum ein. Die Sanierungsmöglichkeiten werden in den jeweiligen Abschnitten dargestellt. Zwei Kapitel widmen sich dem Bohlendachwerk und der Zollinger Bauweise. In diesen Kapiteln werden die konstruktiven Details dieser beiden Dachtragwerke behandelt. Der letzte Teil des Buches greift das Thema des Feuerwiderstandes nach Euro Code auf.Das Fachbuch ist durch zahlreiche Bilder und Zeichnungen zu den einzelnen Holzbauteilen gekennzeichnet. Der Autor will mit seinem Werk zur besseren Bewertung vorhandener Holzbauwerke beitragen. Dazu dienen die Standsicherheitsnachweise im Buch. Ein fundiertes Stichwortverzeichnis und ein reichhaltiges Literaturverzeichnis runden das Fachbuch ab.

Für Fachleute, die in der Praxis mit historischen Holzbauwerken in Berührung kommen, kann dieses Buch eine große Hilfe bei der täglichen Arbeit sein.

Erler, Klaus, Alte Holzbauwerke, Huss-Medien; Auflage: 3., veränderte Auflage (1. Januar 2004), ISBN-10: 3345008645 , ISBN-13: 978-3345008641.

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