Reetdächer: Nachhaltig seit Jahrtausenden

Das Handwerk des Reetdachdeckens hat Tradition und ist vor allem in Norddeutschland weit verbreitet. Reet aus deutschem Anbau ist jedoch selten. Meistens legt der Naturbaustoff weite Wege von der Ernte bis aufs Dach zurück. Die Nachfrage nach dem Baustoff Reet ist dennoch seit Jahren ungebrochen.

Ganz Sylt liegt unter einer dichten Wolkendecke, aus der es unablässig regnet. Bis auf ein kleines friesisches Dorf auf dem östlichen Zipfel der Insel. Dorthin unterwegs ist der Reetdachdecker Sönke Bartlefsen. Nicht wenige seiner knapp 30 Mitarbeiter stammen ursprünglich von der Insel Sylt. Der 62-jährige Sönke Bartlefsen aber stammt vom friesischen Festland.

Jeden Morgen kommt er von Risum-Lindholm mit dem Zug auf die Insel, um die Baustellen seiner Firma abzufahren und nach dem Rechten zu sehen. Hat der Wind vielleicht eine der Planen gelöst? Reicht das Material? Sind alle Arbeitskräfte am richtigen Ort? Können wir überhaupt arbeiten? Sönke Bartlefsen deckt schon seit über 35 Jahren Dächer mit Reet ein, so wie es Menschen seit tausenden von Jahren tun.

Schnell wachsender Rohstoff

Reet ist einer der ältesten Baustoffe der Welt. Die ältesten Reetdächer wurden um 4000 v. Chr. nachgewiesen, auf Pfahlbauten am Bodensee. Das Handwerk des Reetdachdeckens ist jedoch erst seit 2014 immaterielles Kulturerbe der UNESCO.

Reet ist getrocknetes Schilf und wächst quasi überall auf der Welt, wo es Ufer gibt. Entsprechend ist es auf allen Kontinenten verbreitet. In Deutschland stehen geschätzt 40 000 bis 60 000 Reetdachhäuser, vor allem an den Küsten und auf den Inseln Norddeutschlands. Vielerorts ist die Bedachung mit dem schnell nachwachsenden Rohstoff sogar vorgeschrieben. So wie in vielen Ortschaften Sylts. Sönke Bartlefsen und sein Team arbeiten derzeit an einem der ältesten Häuser der Insel. Bündel mit Reet stapeln sich im Vorgarten, neben Dachlatten, Schraubenpackungen und einer großen Werkzeugkiste. Oben auf dem Dach arbeiten zwei Reetdachdecker. Geschickt passen die Männer die bis zu zwei Meter langen Reet-lagen der Dachform an, dünnen sie an den Fensterrundungen oder Kehlen aus, damit die Halme an diesen kniffligen Stellen die notwendige Neigung haben.

Die einzelnen Reetlagen befestigt Dachdecker Stephan Pump mit Stangendraht, Schrauben und Drahtschlaufen in den Dachlatten der Unterkonstruktion. Anschließend klopft er mit dem Treiber die Enden des Reets bündig. Früher wurde Reet vernäht, zum Teil mit Fäden aus Kokosfasern. Es gab einen Gegennäher, der von innen gearbeitet hat. Heute setzen die Reetdachdecker auf Materialien, die länger halten.

Heidekraut oder Grasnarbe für den First

Lage für Lage arbeitet Reetdachdecker Stephan Pump sich mit seinem Kollegen voran. Sechs Wochen werden sie insgesamt brauchen für die 300 m² Dachfläche, die sie mit Reet eindecken. Am Ende decken sie die abgeflachte Spitze am First mit Dachpappe ab, auf die entweder Heidekraut oder Grasnarbe kommt.

Das Handwerk des Reetdachdeckers ist kunstvoll und filigran, erfordert Wissen, Erfahrung und Geschick. Über mangelnde Aufträge kann Sönke Bartlefsen sich nicht beklagen. „Solange es die Insel gibt, haben wir Arbeit“, sagt er. Dank seines Sohnes, der sich um neue Aufträge kümmert, bekommt die Firma auch viele Aufträge für Projekte auf dem Festland.

Nutzung im Einklang mit der Natur

Reet ist ein nachhaltiger Baustoff, der gut dämmt. Während seines Wachstums bindet das Schilf Kohlendioxid aus der Luft. Nach seiner Ernte im Winter wächst es aus einem weit verzweigten Wurzelgeflecht wieder nach, ohne dass es gesät oder gedüngt werden muss. Wird das Reet zum richtigen Zeitpunkt geerntet, also wenn die Vögel nicht mehr darin brüten, steht seine Nutzung im Einklang mit der Natur.

Das ist auch einer der wichtigen Gründe für den Bauherrn Gustav Krieg, auf den Baustoff Reet zu setzen. Gustav Krieg ist Bauingenieur und Unternehmer im Straßenbau, seine Tochter Architektin mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit. Das Dach des Hauses der Familie Krieg auf Sylt wird mit regional auf Sylt geschnittenem Reet eingedeckt. Die Ernte ist nur an bestimmten Stellen erlaubt, unter anderem im Naturschutzgebiet Rantumbecken und bei Morsum. Gustav Krieg hat das Material bereits im Sommer 2020 bestellen müssen. „Wir wollten mit der Herkunft aus Sylt sicher gehen, dass das Reet nicht chemisch behandelt ist“, sagt der Bauherr, „zudem gibt es wohl kaum einen kürzeren Transportweg für das Reet.“

Lieferanten aus Rumänien, Ungarn und der Türkei

Reet aus Deutschland ist eine Seltenheit. Sehr viele Uferbereiche hierzulande stehen unter Naturschutz, deswegen darf dort kein Reet geerntet werden. Doch Reet wächst weltweit an vielen Orten. „Wo Wasser ist, gibt es Reet“, sagt Ole Jedack, Vertriebsleiter der Firma Hiss Reet in Bad Oldesloe. Mit vielen 100 000 Bunden Reet (genaue Zahlen werden nicht verraten) ist Hiss Reet einer der größten Reet-Fachhändler Deutschlands. In der sehr hohen, gut belüfteten Halle von Hiss Reet in der Nähe des Bahnhofs von Bad Oldesloe stapeln sich die Reetbunde. Zehn bis zwölf davon brauchen Reetdachdecker in etwa, um einen Quadratmeter Dachfläche in 35 cm Stärke einzudecken. „Hier liegt aber nur ein kleiner Teil unserer Ware“, sagt Ole Jedack. Die Firma mit fast 190 Jahren Geschichte hat Tochterunternehmen in Rumänien, Ungarn und der Türkei. Von dort werden die Baustellen zum Teil direkt mit Reet beliefert.

Hoher Ernteaufwand

Durch das Ernten unter eigener Regie kann Hiss Reet nach eigenen Angaben sehr gute Qualität bieten. Entscheidend ist, dass die Halme weit unten geschnitten werden. Und zwar erst, wenn sie ihre Blätter abgeworfen haben und die Kraft der Pflanze in den Halm gegangen ist. Weil die Halme zum Teil 30 cm auseinander stehen, braucht es große Flächen für den Anbau. Um ein Einfamilienhaus mit Reet einzudecken, müssen Arbeiter oder Maschinen eine Fläche von drei bis vier Fußballfeldern ernten. Je nach Konstruktion des Daches stellt Ole Jedack die Lieferung aus Halmen verschiedener Länge zusammen und sagt schmunzelnd: „Ich kenne hier jeden Halm, und jedes Bund hat seinen Platz im Dach.“

Seine gute Laune hat ihren Grund: Die Nachfrage nach Reet ist seit Jahren konstant hoch. In List auf Sylt wird zum Beispiel mit dem Lanserhof zurzeit das größte Reetdachprojekt Europas gebaut, ein gigantisches „Health Resort“. Das Reet dafür kommt aus Kasachstan. Auch aus China wird zunehmend Reet eingeführt. Preiswerter als Reet aus anderen Ländern ist das chinesische Reet aufgrund der derzeit teuren Container-Raten aber nicht. Sönke Bartlefsen jedoch schwört auf die Qualität chinesischen Reets. „So ein Halm auf dem Dach ist langlebig“, sagt er. Zur Veranschaulichung wickelt Sönke Bartlefsen einen Reethalm um seinen Finger. „Der ist fast so hart und holzig wie Bambus und trotzdem biegsam, und er hat eine sehr geschlossene Oberfläche.“ Viele seiner Kollegen und Kunden aber wollen von Reet aus China nichts wissen.Manche kritisieren Sönke Bartlefsens für seine offene Haltung. Der Nordfriese jedoch hat andere Sorgen. Allen voran die Knappheit und die explodierende Preise für Reet sowie andere Baumaterialien. Sönke Bartlefsen zeigt auf einen Bund Dachlatten und sagt: „Die gab es vor kurzem noch für unter einen Euro pro laufenden Meter, jetzt kosten sie gut zwei Euro.“ Weitergeben kann er die Steigerung kaum, zumindest nicht bei älteren Aufträgen. Aber der Unternehmer bleibt gelassen. Schließlich hat er schon viele andere, größere Herausforderungen gemeistert.

Autoren

Klaus Sieg ist freier Autor und lebt in Hamburg. Martin Egbert ist freier Fotograf und lebt in Tecklenburg.

Haltbarkeit von Reetdächern

Ein Reetdach ist teurer als Dächer anderer Bauart. Im Vergleich zu einem Dach aus einfachen Betondachsteinen kann es fast doppelt so viel kosten. Allerdings braucht es keine oder nur sehr wenige Regenrinnen, Fallrohre oder aufwändige Blechanschlüsse für ein Reetdach.

Ein Reetdach kann nach knapp 50 Jahren fällig für eine Sanierung sein, manchmal aber auch schon nach nur gut 20 Jahren. Das hängt sehr von der Qualität des Materials und der Verarbeitung ab. Und von der Witterung. Der größte Feind des Reetdaches ist Feuchtigkeit, die sich im Reet sammelt und nicht verdunsten kann. Zu warme und feuchte Winter und verregnete Sommer setzen dem Material zu.

Reetdachdecker bauen heute Reetdächer mit einer ausreichend dicken Hinterlüftung, um sicherzugehen, dass die Feuchtigkeit aus dem Material gelüftet wird. Zudem gehört eine Dampfsperre in die Dämmschicht hinter dem Reet. Wichtig ist außerdem eine ausreichend steile Neigung der Halme. Auch empfehlen Reetdachdecker regelmäßige Pflege, um Moose oder den so genannten Algenschleim zu entfernen, der dem Dach sehr gefährlich werden kann. Sowohl Moos als auch Algenschleim auf Reetdächern breiten sich zunehmend aus, bedingt durch zu feuchte und warme Winter sowie einen gestiegenen Gehalt an Stickstoff in der Luft, verursacht unter anderem durch die Abluftanlagen der Massentierhaltung.

Kontakt

Dachdeckerbetrieb Reetdacheckererei Bartlefsen, www.der-reetdachdecker.de

Reetfachhändler Hiss Reet GmbH, 23843 Bad Oldesloe, www.hiss-reet.de

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